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Linke Identitätspolitiken

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Linke IdentitätspolitikenWerner Zentner1 April, 2022 - 12:57

Im November 2021 fand die jährliche Herbstakademie von BdWi und fzs zum Themenfeld "Identität und Klasse" statt. Im Eröffnungsvortrag erläuterten Jens Kastner und Lea Susemichel, dass das Schlagwort der "Identitätspolitik" heute oft verwendet wird, um emanzipatorische Kämpfe zu diskreditieren und zu delegitimieren. Dabei steht (linke) Identitätspolitik aber keineswegs im Widerspruch zu KIassenpolitiken; vielmehr seien diese immer auch selbst Identitätspolitiken.

Die "Selbstgerechten" nennt Sahra Wagenknecht sie, von "Snowflakes" oder "Kampfmimosen" ist die Rede, die sich in einem beständigen "Opfercontest" über "Microaggressions", "Cancel Culture" und "Cultural Appropriation" empörten und die sich am liebsten nur noch in ihre "Safe Spaces" zurückzögen. Von vielen Seiten wird eine "Gesellschaft der Singularitäten" beklagt (so der Erfolgstitel des Soziologen Andreas Reckwitz). Diese Gesellschaft sei nicht alleine durch die Erosion von Solidargemeinschaften und neoliberale Entsolidarisierungsprozesse geprägt, sondern auch durch eine Fragmentierung sozialer Bewegungen in unzählige Kleinstgruppen, die sich jeweils nur noch mit ihrer individuellen Diskriminierungserfahrung beschäftigen würden. Das mache breite Allianzen innerhalb linker Bewegungen unmöglich. Als Beispiele werden Triggerwarnungen in Lektüreseminaren oder vorverurteilende Social-Media-Shitstorms genannt. Unbestritten ist, dass vieles davon sicherlich kritik- oder zumindest diskussionswürdig ist. Doch bei einer Pauschalverurteilung linker Identitätspolitik handelt es sich um den Versuch, demokratiepolitisch unverabschiedbare emanzipatorische Politiken zu diskreditieren und zu delegitimieren, genau wie um eine Diskreditierung der unaufgeregten, unermüdlichen und meist unbedankten Arbeit zahlloser "identitätspolitischer" Organisationen. Also der Arbeit von feministischen Vereinen, Homosexuellenverbänden, Antidiskriminierungsinitiativen etc., die sich für Minderheitenrechte und eine gerechtere Gesellschaft einsetzen. Damit haben sie den gesellschafts- und geschlechterpolitischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte entscheidend befördert. Und angesichts des scharfen reaktionären Gegenwinds, der diese sogenannte Identitätspolitik immer schon verlässlich begleitet hat, können sich diese Aktivist:innen übergroße Empfindlichkeiten eher nicht leisten, und ihr Engagement fällt zumeist durch langen Atem und viel Idealismus und weit seltener durch überspannte Grabenkämpfe auf.

Bezeichnenderweise kommt es im Zuge der kollektiven Klagen über die neue Opferkonkurrenz häufig dazu, dass die Klagenden kurzerhand selbst einen Opferstatus für sich reklamieren. Es ist die Selbstviktimisierung des "alten, weißen Mannes", der als bislang unmarkierter Standard mit Universalismusanspruch diese ungewohnte Identifizierung als tiefe Kränkung erlebt.

Neben dem Vorwurf von "Opferolympiade" und "Überempfindlichkeit" ist noch eine zweite Anklage gegen Identitätspolitik weit verbreitet: Beim Kampf gegen kulturelle Diskriminierung sei der Klassenkampf vergessen worden, lautet der zentrale Vorwurf. Die Identitätspolitiken, die ab den 1960er Jahren entstanden, also etwa die Frauen-, die Bürgerrechts- oder die LGBT-Bewegung, schienen den "alten" Identifizierungen über Arbeit und Arbeiter:innenbewegung entgegenzustehen. Als die Forderung nach Anerkennung kultureller Differenzen vehementer wurde, sahen viele Linke darin eine Absage an die Forderung nach sozialer Gleichheit.

Wir werden im Folgenden zeigen, dass die beiden Kämpfe nicht voneinander zu trennen sind. Denn linke Identitätspolitik, so die These dieses Textes (und unseres Buches1 zum Thema), ist ein Kampf um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, der an den Differenzen ansetzt, die sie verhindern.

Was ist Identitätspolitik?

Doch zunächst möchten wir uns der Frage widmen, was genau Identitätspolitik eigentlich ist. Linke Identitätspolitik ist in aller Regel eine Reaktion auf Diskriminierung. Sie reagiert darauf, dass einem vermeintlichen Kollektiv bestimmte (nicht unweigerlich ausschließlich negative) Eigenschaften zugeschrieben werden. Das bedeutet also zum Beispiel, dass Frauen als irrational gelten, ihnen gleichzeitig aber auch mehr Emotionalität und Empathiefähigkeit zugeschrieben wird. Solche Kollektivzuschreibungen sind historisch kontingent, sie können wechseln und sich mitunter sogar direkt widersprechen. Dabei werden Menschen zu einer Gruppe zusammengefasst, die eine eigene "Einheit" bilden soll: Identität kommt vom lateinischen "idem": das bedeutet "derselbe, dasselbe". Diese Einheit ist eine soziale Setzung. Die Menschen, die sich in ihr wiederfinden, sind nicht wirklich "dieselben". So hat der Rassismus erst das Konstrukt "Race" hervorgebracht - nicht umgekehrt, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates es auf den Punkt bringt.2 Menschen werden also als Kollektive adressiert, ohne über diese Zugehörigkeit selbst entschieden zu haben.

Diese kollektive Zuschreibung hat enorme Konsequenzen, die zwar der einzelne Mensch zu tragen hat, die aber nur aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit entstehen: Die "gläserne Decke" erfährt zwar eine einzelne Frau, aber nicht deshalb, weil sie bei ihrer individuellen Karriereplanung etwas falsch gemacht hat, sondern weil sie als Teil des Kollektivs "Frauen" struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist; von Faschisten verprügelt werden zwar einzelne konkrete Menschen, aber sie erfahren diese Gewalt deshalb, weil sie zuvor rassistisch kollektiviert wurden.

Wenn nun also Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, liegt es nahe, sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen. Und deshalb gibt es Identitätspolitik.

Der Begriff "Identitätspolitik" wird in linken Kontexten selten als Selbstbeschreibung gebraucht, vornehmlich wird er von den Kritiker:innen genutzt. Geprägt hat ihn das Combahee River Collective 1977. In einem programmatischen Statement hat dieses Kollektiv schwarzer, lesbischer Frauen verkündet: "Wir glauben, dass eine tiefgehende und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht"3. Damit war gemeint, dass die spezifische Unterdrückungserfahrung, die sie als schwarze Lesben konkret erfuhren, sich auch aus ihrer konkreten Situation als schwarze Lesben heraus am besten bekämpfen lässt - und zwar gemeinsam bekämpfen lässt.

In einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezieht, erkannten sich diese Frauen nämlich nicht wieder. Denn dessen Lebensrealität entsprach nicht ihrer Lebenssituation und nicht ihren Ausbeutungserfahrungen. So erging es vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die nun ihre ganz spezifischen Diskriminierungserfahrungen zum Thema machten und sich zusammenschlossen. Für diese Identitätspolitiken war ein Wort, das auch das Combahee River Collective schon im Namen trägt, besonders zentral: kollektiv.

Doch als Kollektiv auf die gemeinsam erlebte Unterdrückung zu reagieren, setzt zunächst die Akzeptanz dieser fremdbestimmten Zuordnung und Zugehörigkeit voraus. Dieses notgedrungene Akzeptieren wird von einer Eigen- und Neudefinition der zugewiesenen kollektiven Identität begleitet. Die erfahrene Unterordnung samt der abwertenden Attribute sollen zu einer nun selbstgewählten und selbstermächtigenden, positiv konnotierten Kollektividentität werden: Frauen sind nun nicht mehr das "schwache Geschlecht", sondern stark und selbstbestimmt, Schwarz ist nicht mehr schlechter als weiß, sondern "Black is beautiful", "Gay Pride" ersetzt schwul als Schimpfwort usw.

Aber es bleibt das zentrale Dilemma jeder linken Identitätspolitik, sich dabei auch positiv auf Kategorien beziehen zu müssen, die eigentlich Anlass für die Diskriminierung sind.

Zwischen Ablehnung und Affirmation

Identitätspolitik ist also von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet. Mit der Affirmation einher geht eine große Gefahr von Identitätspolitik: die der Essenzialisierung. Denn auch die bspw. sexistischen und rassistischen Zuschreibungen sind oft ambivalent und nicht ausnahmslos pejorativ, Frauen gelten etwa als empathisch und fürsorglich, Schwarze Männer als stark und potent. Deshalb ist die Versuchung groß, solche kontingenten Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. Der selbstbewusst getragene Afro gehört dann ebenso unauflöslich zu Blackness wie die gefeierte Gebärmutter zum Frausein. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht über die nötige Haarstruktur oder wie trans Frauen nicht über das geforderte Organ verfügt, bleibt ausgeschlossen. Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr. Sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind.

Linke Identitätspolitik ist in den vergangenen Jahren bekanntlich zunehmend in die Kritik geraten. Insbesondere seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist die Argumentation weit verbreitet, dass sich die Linke in den letzten Jahren nur auf die Anliegen von Minderheiten konzentriert habe. Soziale Ungleichheit und deren Bekämpfung sei derweil aus dem Blick geraten. Diese Entwicklung habe schließlich auch den Aufstieg der Ultrarechten beflügelt, wenn nicht sogar ausgelöst. Diese Kritik kommt aus unterschiedlichen politischen Lagern: Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der mit seiner These vom "Ende der Geschichte" in den 1990er Jahren berühmt wurde, vertritt sie in seinem neuen Buch. Aber auch so unterschiedliche Impulsgeber wie der US-Polittalker Bill Maher, die Philosophin Nancy Fraser und der Soziologe Zygmunt Bauman haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder dieser Argumentationsfigur bedient. Linke Politik solle sich, fordert etwa auch der Politologe Mark Lilla, wieder Anliegen widmen, die "einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen". Denn diese Themen würden nun von den Rechten besetzt, was sich bitter gerächt habe.

Auch im deutschsprachigen Raum mehren sich die Stimmen, die behaupten, die Auseinandersetzung um Identitätspolitiken — also etwa das Eintreten für Feminismus, LGBTIQ- und Minderheitenrechte usw. — habe die Beschäftigung mit Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ersetzt. Insbesondere die "liberalen Eliten" und der von ihnen verfochtene "progressive Neoliberalismus", von dem Nancy Fraser spricht, hätten für eine nun von rechts besetzte "Repräsentationslücke" gesorgt, argumentieren auch Autor:innen wie Cornelia Koppetsch und Robert Misik.

In einer Vielzahl ähnlich argumentierender Positionen wird dabei die Entgegensetzung von kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit bewusst geschürt. Und mit diesem falschen Gegensatz wird implizit ausgeschlossen, dass soziale Ungleichheit auch durch identitäre Politiken bekämpft wurde und wird. Völlig zu Unrecht. Denn bei dieser ausschließenden Gegenüberstellung vom Kampf um soziale Anerkennung auf der einen und dem Kampf gegen soziale Ungleichheit auf der anderen Seite, werden die vielen - praktischen wie theoretischen - Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenzen mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen oder bewusst ausgeblendet.

Es gibt einige Beispiele, die zeigen, dass Identitätspolitiken sowohl in der Theorie als auch in der politischen Praxis keineswegs einer Klassenpolitik entgegengesetzt wurden. So richteten sich etwa die feministischen Bewegungen zu allen Zeiten auch gegen weibliche Armut und formulierten eine elaborierte Ökonomiekritik, mit der sie u.a. die Anerkennung von Reproduktionsarbeit sowie eine radikale Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit forderten - es sei hier z.B. an Frigga Haugs 4-in-1-Perspektive erinnert. Ein weiteres Beispiel ist das 10-Punkte-Programm der Black Panther Partei, das 1966 "Land, Brot, Unterkunft, Erziehung, Kleidung, Gerechtigkeit und Frieden" verlangte. Und die Zapatistas richteten ihren Kampf von Beginn an gegen Rassismus, Armut und die neoliberale Hegemonie.

Klassenpolitik als Identitätspolitik

Doch die Gegenüberstellung von identitätspolitischem Kulturkampf auf der einen und Klassenkampf auf der anderen Seite ist noch aus einem anderen gewichtigen Grund falsch. Denn Identitätspolitiken sind mitnichten allein Angelegenheit ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Minderheiten. Stattdessen muss die Geschichte der emanzipatorischen Identitätspolitiken mit der Arbeiter:innenbewegung ansetzen. Denn auch Klassenpolitiken sind immer Identitätspolitiken.

Als nämlich während der Industrialisierung ehemalige Bauern und Bäuerinnen und vormalige Handwerker:innen in die Fabriken strömten, resultierte das in einer massenhaften Angleichung von Arbeitsverhältnissen. Diese (mehr oder weniger) identischen Produktionsbedingungen führten aber nicht automatisch dazu, dass die Menschen sich selbst kollektiv über sie definierten. Sie sahen sich als Schlosser oder Waschfrau, nicht unbedingt als Proletarier:innen. Die wahrgenommene und gefühlte Einheit der Arbeiter:innen gab es nicht - diese Identifizierung musste mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden.

Das wussten auch schon die sozialistischen Theoretiker:innen. "Um die besitzenden Klassen vom Ruder zu verdrängen," schreibt Friedrich Engels 1891 an Max Oppenheim, "brauchen wir zuerst eine Umwälzung in den Köpfen der Arbeitermassen."4 Bei dieser Umwälzung in den "Köpfen der Arbeitermassen" geht es um eine Identifizierung der Klasse, um das vielbeschworene Klassenbewusstsein. Dieses Bewusstsein darüber, sich in einer ähnlichen ökonomischen Lage zu befinden und kollektive Erfahrungen zu teilen, das Bewusstsein, eine Klasse für sich zu werden, wird als entscheidendes Werkzeug im Klassenkampf verstanden: Den Arbeiter:innen soll bewusst werden, dass sie wesentlich etwas gemeinsam haben.

Doch die kollektive Identität der Arbeiter:innenklasse war nicht bloß eine Frage von Konzepten und Programmen - Identität war immer auch eine Frage der Praxis. Sie wurde nicht nur in der Fabrik und durch politische Bewusstseinsbildung geschaffen, sondern in Klubs, Kneipen und Arbeitersportvereinen auch praktiziert.

Das war es, was mit den Cultural Studies in den Fokus rückte: nämlich die identitätsstiftende Kraft kultureller Alltagspraxis.

Der Gewerkschaftsaktivist und marxistische Soziologe Stanley Aronowitz resümiert in The Politics of Identity (1992), einer Studie, die dem Selbstverständnis von Arbeiter:innen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg nachgeht: "So gesehen war die Arbeiterbewegung nicht in erster Linie eine ›Weltsicht‹ gepaart mit einer Organisation, die die gegenwärtigen und langfristigen Interessen der Arbeiterklassen ›repräsentierte‹, sondern eine ›Lebenswelt‹, die den Horizont der Existenz definierte."5 Kollektive Identität wird also nicht nur durch eine geteilte Weltsicht, sondern auch mithilfe einer gemeinsamen Lebenswelt hergestellt.

Dieser lebensweltliche Aspekt der Arbeiter:innenbewegung lässt sich mit einer Anekdote gut veranschaulichen. Der sozialistische Theoretiker Karl Kautsky identifizierte nämlich ausgerechnet die Forderung nach Abstinenz als besonders konterrevolutionär: "Das einzige Bollwerk der politischen Freiheit des Proletariers, das ihm so leicht nicht konfisziert werden kann, ist - das Wirtshaus."6

Deshalb ist es auch völlig verfehlt, Klasse und Kultur einander gegenüberzustellen und Klasse als "den sozialistischen Gegenbegriff zu Kultur"7 zu beschreiben, wie es etwa im vieldiskutierten Buch Beißreflexe geschieht, das gegen kulturalistischen Aktivismus argumentiert und eine falsche Gegenüberstellung von Klassenkampf und dem Kampf gegen Klassismus vollzieht. Denn wer Klassismus anprangert, fordert nicht - anders als die Kritik des Klassismus-Begriffs es nahelegt -, kapitalistische Ausbeutung und Deklassierung zu akzeptieren und stolz darauf zu sein. Sondern es wird gegen die ökonomische Ausbeutung genauso wie gegen Diskriminierung aufgrund von Klassenzugehörigkeit gekämpft. Der Begriff des Klassismus steht dem Klassenkampf also nicht gegenüber, sondern beschreibt eine weitere Dimension dieses Kampfes, nämlich die kulturelle. Dieser Kampf um Anerkennung schließt im Übrigen den Kampf um gesellschaftliche Transformation nicht aus. Auch die Arbeiter:innen, die für Respekt (und damit gegen Klassismus) gekämpft haben, taten dies als Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft, es war nicht als Alternative zu diesem Weg gedacht.

Doch die vielstimmige Anklage gegen linke Identitätspolitiken blendet diese identitätspolitische Geschichte der Arbeiter:innenbewegung völlig aus. Was sich bei der Analyse des Erfolgs rechtspopulistischer Politik als besonders fatal erweist: Denn wenn innerhalb der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund neoliberaler Paradigmenwechsel. Und keineswegs deshalb, weil sie durch die identitätspolitischen Scharmützel von Splittergruppen ersetzt worden wäre. Weder für Schwarz-Blau in Österreich noch für Bolsonaro in Brasilien war also das vielgescholtene All-Gender-Klo auch nur irgendwie verantwortlich.

Verkürzte Sichtweise

Doch die irrige Entgegensetzung von Klassenkampf und Identitätspolitik unterschlägt noch etwas: Dass nämlich auch in Trumps Wahlkampf eine Art von Identitätspolitik von und für Arbeiter:innen betrieben wurde - allerdings rechte Identitätspolitk. Das konstatiert etwa die Schwarze Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche in ihrer Analyse der US-Präsidentschaftswahl. Sie widmet sich darin der vielstrapazierten rhetorischen Figur einer vermeintlichen "Rache des weißen Mannes". Gerächt hätten sich die weißen Arbeiter eben unter anderem für die Identitätspolitik der Linken, so die These, gegen die sich Piesche vehement wendet. Denn der Begriff "Rache" impliziert, so die Kulturwissenschaftlerin, dass der Wahlsieg von Trump ein Aufbegehren gegen den vermeintlichen Gesinnungsterror der Political Correctness gewesen sei. So habe die Political Correctness den Backlash der weißen Arbeiter:innen letztlich selbst provoziert. In letzter Konsequenz wird also behauptet, dass der Widerstand gegen Rassismus die Ursache für diesen ist. Überspitzt gesagt: Weiße Arbeiter sind bloß so rassistisch, weil ihnen der Aktivismus von Black Lives Matter auf die Nerven geht. Rassismus sei demnach eine bloße Reaktion und kein gewaltiges, strukturelles Problem, das so alt ist wie die USA selbst.

Doch zum Proletariat, das hier angeblich Rache übt, gehört in Wirklichkeit nicht nur der weiße Rust-Belt-Arbeiter, sondern auch die afroamerikanische Uber-Fahrerin, genau wie die Sexarbeiterin, die lateinamerikanische Nanny oder die asiatische Pflegerin.

Caroline Criado-Perez belegt das anschaulich in ihrer Studie Unsichtbare Frauen. "Dem US-Bureau of Labor Statistics zufolge stellt die Kohleindustrie, die im Wahljahr 2016 zum Inbegriff der (implizit männlichen) Arbeiterjobs wurde, insgesamt 53.420 Stellen mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 59.380 Dollar. Zum Vergleich: Die 924.640 mehrheitlich weiblichen Reinigungskräfte und Haushälterinnen verdienen im Durchschnitt jährlich 21.820 Dollar. Wer ist also die wahre Arbeiterklasse?"8, fragt Criado-Perez. "Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte - nämlich die schwarze und die hispanische Arbeiterschaft -, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten", schreibt Ta-Nehisi Coates.

Die Kritik an Identitätspolitik krankt also nicht nur an der antiquierten Vorstellung eines homogenen, weißen Industrieproletariats. Sondern auch daran, dass sie Wahlmotive auf ökonomische Prekarisierung verkürzt bzw. auf eine kosmopolitische Elitenpolitik zurückführt, die von bildungsfernen Schichten als moralisch bevormundend erlebt werde. Und sie vernachlässigt dabei völlig, dass auch Rassismus und Sexismus als uralte und kulturgeschichtlich tief verwurzelte Probleme zentrale Wahlmotive sein können. Rassistische und sexistische Denk- und Diskursmuster sind also keine bloßen Sekundärphänomene, die bei bestimmten Bevölkerungsgruppen erst durch Deklassierung, soziale Not und eigene klassistische Diskriminierungserfahrungen auftauchen. Entsprechend müssen sie auch als eigenständige Probleme ernstgenommen und entschlossen adressiert werden (und nicht nur als die vielbeschworenen "Ängste und Sorgen" der "einfachen Leute").

Diese Verteidigung von Identitätspolitik bedeutet natürlich nicht, dass jede Kritik an Identitätspolitik immer und ausnahmslos falsch wäre: Sicherlich ist nicht jede Identitätspolitik von links per se emanzipatorisch. Sie ist es vor allem dann nicht, wenn sie zur inhaltsleeren, essentialisierenden Repräsentationspolitik verkommt. Wenn also die Legitimität einer Aussage sich nicht mehr am Argument und der Positionierung misst, sondern an Hautpigmentierung oder Hormonstatus, die über Gruppenzugehörigkeit entscheiden sollen. Problematisch ist Identitätspolitik auch dann, wenn sie als Immunisierungsstrategie gegen Kritik missbraucht wird.

Genauso wenig soll geleugnet werden, dass identitätspolitische Kleinkriege ein Hemmschuh kollektiver Organisierung sein können, dass sie die linke Bewegung schon viel Kraft und Geschlossenheit gekostet haben und dass sie sich mitunter auch tatsächlich in eitlen Distinktionskämpfen erschöpfen.

Aber unterm Strich bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten dennoch gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Denn ganz grundsätzlich lässt sich sagen, dass linke Identitätspolitik Marginalisierungen überwinden will, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit für immer mehr Menschen einzutreten. Und angesichts des aktuellen Bashings ist es ungeheuer wichtig, sich dieses historische Verdienst vor Augen zu führen. Nicht Spaltung ist also das Ziel linker Identitätspolitik, sondern vielmehr das, was vermeintlich verhindert wird: Solidarität.

Denn bei genauer Betrachtung zeigt sich: Auch wenn Interessensgegensätze in der Geschichte der Linken gewaltige Konflikte und heftige Kämpfe zur Folge hatten: Auf lange Sicht hat der traditionsreiche ›Streit um Differenz‹ linke Bewegungen gewaltig vorangebracht und gestärkt. Denn Kritik - im besten Fall ist es freilich eine solidarische Kritik - ist ein unverabschiedbares Korrektiv, das vor Dogmatismus schützt und Egalität einklagt, wo diese noch nicht realisiert ist. In der Betonung von Differenzen liegt also auch eine Chance: Sie ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit für Solidarität. Denn radikale Solidarität basiert geradezu auf Differenzen. Sie setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte - ökonomische, kulturelle, politische - Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann. Sie besteht nicht in erster Linie in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt.

Solidarität, meint auch die Schwarze Kulturwissenschaftlerin bell hooks, muss sich überhaupt nicht auf gemeinsame Erfahrung beziehen, sie "kann sich auf das politische und ethische Verständnis von Rassismus und die Absage an Dominanz gründen."9

Diese Absage ist ein nicht bloß normatives, sondern auch ein praktisch-politisches Ideal - auf das der Glaube daran, dass eine bessere Welt möglich ist, elementar angewiesen ist. Genau deshalb müssen wir die Hoffnung verteidigen und verbreiten, dass radikale Solidarität möglich ist.

Anmerkungen

1) Lea Susemichel und Jens Kastner  3 2021: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Münster.

2) Ta-Nehisi Coates 2018: "Vorwort", in: Toni Morrison: Die Herkunft der Anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur, Reinbek bei Hamburg: 7-15; hier: 10.

3) The Combahee River Collective 2019: "Ein Schwarzes feministisches Statement", in: Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster: 49-62; hier: 53.

4) Friedrich Engels 1979 [24.3.1891]: "Brief an M. Oppenheim", in: Karl Marx und Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke. Band 38. Berlin: 63-65; hier: 64.

5) Stanley Aronowitz 1992: The Politics of Identity, Class, Culture, Social Movements, London/ New York: 38, Übers. L. S. / J. K.

6) Ralf Hoffrogge 2011: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart: 111.

7) Marco Ebert 2017: "Queering ›Die Ordnung‹. Die affirmative Rebellion als Kritik an ›Kultureller Aneignung‹", In: Patsy L’Amour Lalove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin: 111-124; hier: 114.

8) Caroline Criado-Perez 2020: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: 45.

9) bell hooks 1994: "Schwarzsein lieben als Form des politischen Widerstands", in: Dies.: Black Looks. Popkultur - Medien - Rassismus, Berlin: 18-32; hier: 23.

Jens Kastner, Dr. phil., ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt in Wien. Er ist Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien. Lea Susemichel studierte Philosophie und Gender Studies in Wien. Als Journalistin, Lehrbeauftragte und Vortragende arbeitet sie zu den Themen feministische Theorie & Bewegung und feministische Medienarbeit. Seit 2006 ist sie leitende Redakteurin der an.schläge.

 

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